Politische Gleichheit ohne soziale Gleichheit

Politische Gleichheit ohne soziale Gleichheit

Dieser Beitrag zur Sonderausgabe zu den Europawahlen 2019 zielt darauf ab, unser Verständnis der sozialen Verzerrung einer niedrigen Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 2019 zu erweitern: Zunächst erörtern wir die Literatur zur sozialen Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung und erklären, warum eine niedrige Beteiligung ein Problem für die politische Gleichheit darstellt. Zweitens verwenden wir das Konzept der Wahlen zweiter Ordnung, um unser Verständnis des Zusammenhangs zwischen sozialer und politischer Gleichheit zu vertiefen. Wir nehmen das seit langem bestehende Tingsten’sche „Gesetz der Streuung“ als Inspiration, um den Zusammenhang zwischen der Wahlbeteiligung auf verschiedenen Ebenen und sozialer Ungleichheit zu untersuchen.

Drittens folgen wir Stockemers Kritik und betreiben „systematisch [. . .] vergleichende Forschung, die die Funktionen der Wahlbeteiligung auf verschiedenen Analyseebenen vergleicht“ (Stockemer, 2017: 715). Viertens vertiefen wir unser Verständnis der Mechanismen, die hinter den Europawahlen 2019 als Wahlen zweiter Ordnung stehen, indem wir die Unterschiede in der Wirkung sozialer Verzerrungen auf die Wahlbeteiligung zwischen verschiedenen Wahlen mit unterschiedlichen Wahlbeteiligungsniveaus empirisch untersuchen. Wir verwenden einen neuartigen, selbst zusammengestellten Datensatz mit Daten für neun europäische Hauptstädte – Amsterdam, Berlin, Bratislava, London, Madrid, Paris, Prag, Tallinn und Wien – auf der Ebene ihrer Stadtbezirke, um die Vielfalt der Wahlbeteiligung in Europa darzustellen. Abschließend werden die Ergebnisse und ihre Implikationen diskutiert.

Soziale Ungleichheit und Wahlbeteiligung

In diesem Papier wird davon ausgegangen, dass soziale Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung das Ideal der politischen Gleichheit bedroht. Sidney Verba unterscheidet drei Dimensionen der politischen Gleichheit: gleiche Rechte (formaler Zugang), gleiche Stimme (Ein-Mann-eine-Stimme-Prinzip) und gleiche Fähigkeit und Gelegenheit zur Beteiligung (Verba, 2003). Während die Höhe der Wahlbeteiligung für die ersten beiden Dimensionen nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist sie für die dritte Dimension entscheidend. Diese Dimension der Gleichheit kann kaum durch Gesetzgebung und Anpassung der Wahlverfahren erreicht werden, sondern nur, wenn alle sozioökonomischen Gruppen eine gleich hohe oder niedrige Wahlbeteiligung aufweisen. Politische Gleichheit ist also eng mit sozialer Gleichheit verknüpft (Persson et al., 2013). Daher stellen eine niedrige Wahlbeteiligung und ein wachsendes Ungleichgewicht zwischen sozioökonomisch privilegierten und weniger privilegierten Gruppen die Legitimität des demokratischen Versprechens der politischen Gleichheit in Frage (Lijphart, 1997).

Zugegebenermaßen ist die Literatur zur Wahlbeteiligung äußerst fragmentiert. Doch trotz des breiten Spektrums an unterschiedlichen Variablen (Smets und van Ham, 2013), methodischen Ansätzen und Ergebnissen lassen sich doch einige Gemeinsamkeiten finden. Studien über konkrete Auswirkungen der Wahlbeteiligung auf das Wahlergebnis bestätigen umfassend, dass „der sozioökonomische Status (SES) stark mit der Wahlbeteiligung korreliert ist“ (Lutz und Marsh, 2007: 540). Die meisten Politiker und Parteien reagieren auf diese Tatsache, indem sie sich stark auf Bezirke mit einer hohen Wahlbeteiligung konzentrieren. Diese Selbst- und Fremdselektionseffekte führen zu einer weiteren Abwärtsspirale sowohl bei der Wahlbeteiligung als auch bei der sozialen Gleichheit (Lutz und Marsh, 2007).

Das Gesetz der Streuung und Europawahlen zweiter Ordnung
Zusätzlich zu Verbas statischem Argument, dass eine niedrige und sozial unausgewogene Wahlbeteiligung eine Herausforderung für die demokratische Legitimität darstellt, stellte Herbert Tingsten bereits 1937 eine dynamische Hypothese auf.

Er formulierte das so genannte „Gesetz der Streuung“, das den Zusammenhang zwischen sinkender Wahlbeteiligung und steigender sozialer Ungleichheit unterstreicht: „Nach dieser Regel ist die Streuung (die Unterschiede) in Bezug auf die Beteiligung an einer Wahl oder innerhalb einer bestimmten Gruppe umso geringer, je höher die allgemeine Beteiligung ist“ (Tingsten, 1975: 175). Umgekehrt werden die Unterschiede zwischen diesen sozialen Gruppen umso größer, je geringer die Wahlbeteiligung ist. Lijphart griff diese Erkenntnisse 1997 wieder auf und nannte den Mechanismus zwischen sozialer und politischer Gleichheit das „ungelöste Dilemma der Demokratie“ (Lijphart, 1997). Dennoch besteht kein Konsens darüber, dass eine sinkende Wahlbeteiligung zwangsläufig zu einer wachsenden Ungleichheit führt (Dassonneville und Hooghe, 2017), wie es das Gesetz der Streuung vorhersagen würde.

Die Forschung zur Wahlbeteiligung in Verbindung mit sozialer Ungleichheit hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen (Cancela und Geys, 2016). Obwohl sich viele Studien zur Wahlbeteiligung auf das Dispersionsgesetz beziehen, haben nur sehr wenige es empirisch überprüft. Während Sinnott und Achen (2008) keine Beweise im US-Kontext und nur mäßig starke Effekte im EU-Kontext finden, finden Persson et al. (2013) in einem schwedischen natürlichen Experiment starke Unterstützung dafür. Bhatti et al. (2019) finden das Gesetz auch in Dänemark – einem weiteren Land mit hoher Wahlbeteiligung – bestätigt. Dassonneville und Hooghe (2017), die sechs EU-Länder untersuchten, bestätigen dieses gemischte Bild und finden einige Belege für das Gesetz, aber nicht in allen untersuchten Ländern. Außerdem untersuchen alle diese Studien die Beziehung entweder nur in einzelnen Ländern oder für einzelne Wahlen.

Kommentare sind geschlossen.